Illustratorin Anke Feuchtenberger: „Zeichnen ist immer auch Staunen“

Anke Feuchtenberger wurde mit ihrem Comic „Genossin Kuckuck“ für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Ein Gespräch über DDR-Kindheit, Schönheitsideale und Animismus.

Portrait der Comiczeichnerin Anke Feuchtenberger

Sieht keine tiefe Trennung zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und Pilzen: Anke Feuchtenberger Foto: Gunter Glücklich

Anke Feuchtenberger ist eine der wichtigsten grafischen Zeich­ne­r*in­nen in Deutschland und hat als Professorin Generationen von Co­mic­-Künst­le­r*in­nen geprägt. In „Genossin Kuckuck“ erzählt sie autofiktional von ihrem Aufwachsen in einem vorpommerschen Dorf. Hauptprotagonistin des Buches ist Kerstin, die ohne Eltern, aber mit Oma und Freundin Effi aufwächst. Es gibt keine geradlinige Erzählung, vi­suell geht es mystisch zu.

Anke Feuchtenberger wohnt in einem kleinen Dorf in Vorpommern. Zwei von ihren drei Hunden sind aus dem Häuschen, als Besuch kommt – später liegen sie ruhig auf einer Matratze im Atelier. Es gibt Tee, große Kohlezeichnungen aus dem Comic stehen im Raum, es herrscht kreative Ordnung, die Sonne scheint. Irgendwann steht einer der Hunde auf und es ist Zeit zu gehen.

Der Mensch

Anke Feuchtenberger wurde 1963 in Ost-Berlin geboren und verbrachte ihre Kindheit zur Hälfte in Berlin, zur Hälfte in Vorpommern. Sie studierte Grafikdesign an der Kunsthochschule Berlin und unterrichtet seit 1997 an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg.

Die Comiczeichnerin

Feuchtenberger arbeitet seit 1989 als freiberufliche Künstlerin. Seit etwa 30 Jahren zeichnet sie Comics, die sie grafische Essays nennt. Zu ihren bekanntesten gehören „Die Hure H“ (mit der Autorin Katrin de Vries) und „Die Spaziergängerin“. 2023 erschien „Genossin Kuckuck“ im Verlag Reprodukt.

wochentaz: Frau Feuchtenberger, auf dem Weg hierher habe ich das Lied „Cuckoo Madame“ von dem englischen Sänger Robert Wyatt gehört. Ein sehr verstörender Song …

Anke Feuchtenberger: Absolut! Aber wunderschön, oder?

ganz schön traurig! Es handelt von einer Mutter, die ihr Kind allein ­lassen muss. Das Lied war die Inspiration für Ihr Buch „Genossin Kuckuck“, richtig?

Ich habe an diesem Buch 13 Jahre lang unter dem Titel „Ein deutsches Tier im deutschen Wald“ gezeichnet. Im Deutschen wäre der Titel lustig, aber auf Französisch oder Italienisch lässt sich das nicht übertragen. Dann erinnerte ich mich an „Cuckoo Madame“. Ich finde das Lied schön und zärtlich, der Text ist so vielschichtig. Ich überlegte dann, was eine sozialistische Variante von „Cuckoo Madame“ sein könnte, und kam auf „Genossin Kuckuck“.

Was unterscheidet eine Kuckucksmutter von einer Rabenmutter?

Eine Rabenmutter ist eine gute Mutter. Wenn ein Vogel eine „Rabenmutter“ ist, wie wir den Begriff verwenden, dann ist es eher der Kuckuck. Er legt sein Ei in ein fremdes Nest, meistens in das Nest eines viel kleineren Vogels. Und wenn das Kuckuckskind geboren ist, vertreibt es die anderen kleinen Vögel aus dem Nest. Nicht nur die Mutter entspricht also nicht unseren kulturellen und moralischen Vorstellungen von Gut und Böse, sondern auch das Baby. Das ist für mich das Thema der transgenerationalen Vererbung, welches mich in dem Buch beschäftigt. Die Generation meiner Eltern sind Kriegskinder. Ich wollte zeigen, was der Krieg mit den Menschen über mehrere Generationen macht.

In „Genossin Kuckuck“ beschreiben Sie eine Kindheit in der DDR. Es geht um abwesende Eltern, um Freundinnenschaft, aber auch um Heimerfahrungen und eine strenge Großmutter. Verlorensein ist ein großes Thema. Verbinden Sie diesen Zustand auch mit Ihrer Kindheit?

Ich beschreibe ausgehend von autobiografischem Material Dinge, die jeder/jede kennt oder kennen könnte. Für mich sind das intensive Erlebnisse, die auch eine körperliche Dimension haben, Verlassenheit zum Beispiel. Genauso intensiv erinnere ich mich an positive Erfahrungen wie etwa das Schwimmen im See oder die Freude beim Hochgeworfen-und-wieder-aufgefangen-Werden. In der Kindheit erleben wir das alles am intensivsten, weil es das erste Mal ist. Jede weitere Erfahrung ist nur eine Wiederholung.

Das Buch ist nicht linear erzählt, immer wieder wird die Zeitebene gewechselt, auch die Figuren sind nicht linear. Die Menschen werden manchmal zu Hunden, zu Schweinen, zu Schnecken. Warum?

Die Kindheit hat viel mit Animismus zu tun – Kinder animieren eine Teekanne, verbrüdern sich mit Hunden oder nehmen Schnecken als Gesprächspartner. Das ist nicht albern, sondern eine Welterfahrung, an die ich mich gut erinnere. Ich bin nicht so abgebrüht, dass mir das fremd wäre. Im Gegenteil, ich kann es immer noch reproduzieren.

Wie machen Sie das?

Ich habe dafür wohl einfach eine Begabung und finde auch immer schnell einen guten Zugang etwa zu Kindern und Hunden. Das Zeichnen ist eine Art des Erzählens, die sehr direkt ist. Sie funktioniert über die Hand statt über Worte. Das ist eine kindliche Zugangs- oder Wahrnehmungsweise, die auch keine Ironie verträgt oder eine abwertende Herangehensweise, sondern immer mit einem Staunen zu tun hat.

Warum ist das wertvoll?

Ich stelle mir vor, dass Verwandlung notwendig ist, um Traumata zu heilen oder sich weiterzuentwickeln. Die Verwandlung in ein Tier oder eine Pflanze zeigt uns, dass nichts bis zum Ende des Lebens konstant und starr ist. Ich habe das Gefühl, dass Tiere, besonders die uns nahestehenden Haustiere, wie Botschafter in eine andere Welt sind. Als Kind ist man auch eine Art Botschafter/Botschafterin aus einer anderen Welt und wird dann langsam durch Kultur und Erziehung zum Menschen. Aber es gibt für mich keine tiefe Trennung zwischen Menschen und Tieren, Pflanzen und Pilzen.

Der Pilz ist seltsam.

Ja, der steht zwischen Pflanze und Tier. In „Genossin Kuckuck“ geht es um Wesen im Dazwischen.

Die Frauen in Ihren Comics sind nie klassisch schön. Sie haben kantige Körper und klitzekleine, spitze Brüste. Wollten Sie Frauen bewusst nicht so zeigen, wie sie sonst gezeigt werden?

Ja, weil das alles von Männern gemachte Bilder sind. Irgendwann wurde mir sehr heftig bewusst, woraus sich mein Ideal von Schönheit, Kunst und Ästhetik speist. Diese Erkenntnis war wie ein schwindelerregender Trip durch die Tiefen der Zeit: Diese Bilder sind alle vom männlichen Blick, dem männlichen Begehren und männlicher Macht geprägt! Auch mein Ideal vom Künstlersein. Mein Vater ist Künstler, ich hatte viele Künstlerfreunde. Ich fragte mich: Was issn dis hier? Will ich das wiederholen? Welchen Sinn hat das für mich?

Hält der Trip an?

Mittlerweile bin ich da entspannter, aber damals habe ich ganz bewusst versucht, ein Wesen zu zeichnen, das erst mal nicht diese ganzen superweiblich zugeschriebenen Attribute hat. Und dann habe ich es echt heftig zu hören gekriegt. Als ich einen Preis für meine Bildgeschichten bekommen habe, hat jemand in einer thüringischen Zeitung geschrieben, die Zeichnungen seien „entartet“. Das war das Wort! Wie Krebsgeschwüre würden sie aussehen, ohne Brüste und Haare. Das war schmerzhaft. Gleichzeitig habe ich mich gefreut: So ist das eben, wenn jemand aus einer anderen Perspektive zeichnet. Aber ich habe nie gegen ein Schönheitsideal gearbeitet, sondern versucht, mir mein Schönheitsideal vorzustellen. Herausgekommen ist eine Art kindlicher, nicht eindeutig geschlechtlich definierter Körper.

Sie haben eine sehr eigene Art zu zeichnen, die Sie seit über 30 Jahren im deutschen Comicmarkt hervorstechen lässt. Immer schwarz-weiß, nie gefällig. Wie haben Sie dazu gefunden?

Meine Bücher der letzten 30 Jahre sind stilistisch sehr unterschiedlich. Ursprünglich habe ich mit Kohle und Bleistift gezeichnet, aber während meines Studiums wurde mir eine dienstfertige Illustratorenhaltung eingetrichtert. Um die Zeichnungen für die Zeitungen reproduzieren zu können, musste man mit Tusche und Feder arbeiten. Irgendwann hatte ich genug davon, diese Reduktion gibt dem Material so eine Härte. Ich wollte mit Kohle und Bleistift wieder weicher und größer zeichnen. Beides kommt vom gestischen Zeichnen, aus dem ganzen Arm. Mit der Feder geht das nicht, die geht kaputt oder das Papier, oder man kleckert.

Und dann?

Die technischen Möglichkeiten änderten sich, irgendwann konnte man große Formate scannen. Also habe ich 2002 angefangen, wieder mit Kohle zu zeichnen und stärker auf das Licht zu achten.

Wie haben Sie das Selbstbewusstsein entwickelt, für Ihren Stil einzustehen?

Innerlich war ich sehr unsicher und zweifelnd. Aber ich habe immer versucht, mein eigenes Schönheitsideal zu finden. Dazu musste ich mich erinnern. Zum Beispiel daran, wie ich mit fünf Jahren unserer Nachbarin gegenüberstand. Sie war immer geschminkt und sah ein bisschen aus wie Maria Callas. Wenn sie Strumpfhosen trug, konnte man darunter ihre Beinbehaarung sehen, die so stark war, dass sie wie ein Wald aussah! Ich war total verliebt in diesen Wald. Aber dann hat man mir beigebracht, dass das nicht schön sein darf. Aber ich fand ihn schön.

Sie lehren seit 1997 Zeichnen an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Viele Comic-Größen haben bei Ihnen grafisches Erzählen gelernt: Barbara Yelin oder Birgit Weyhe. Was ist Ihnen am wichtigsten Ihren Schü­le­r*in­nen mitzugeben?

Neben der Lehre zu Techniken stelle ich den Studierenden meinen geschulten Blick zur Verfügung. Ich sage, was ich sehe, und werte dabei nicht. Ich frage: Wolltest du es so oder wolltest du es anders? Wenn du es anders wolltest: Wie kommst du dorthin? Wo könnte deine künstlerische Konsequenz liegen? In letzter Zeit möchte ich beim Zeichnen außerdem vermitteln: Da, wo du stehst, kann niemand anderes stehen und zeichnen. Nur du. Schau genau hin. Sei dir bewusst, wo dein Standpunkt ist, wo du bist. Das ist für mich auch politisch, zu sagen: Das ist dein Standpunkt, im wahrsten Sinne des Wortes. So entsteht eine eigene Perspektive.

Kann je­de*r zeichnen lernen?

Ja, davon bin ich überzeugt. Ich habe schon Wunder erlebt mit Leuten, die am Anfang scheinbar gar nicht zeichnen konnten und keine Ahnung von akademischer Perspektive hatten. Aber diese Zeichner/Zeichnerinnen wollten zeichnen und erzählen und sind jetzt teilweise auch berühmt. Man muss es wollen und muss es tun. Ob das dann Kunst ist und welche Bedeutung das für die Kunst hat, ist nicht wichtig, die Frage klären andere später. Ich musste auch erst 60 werden, bis ich mit „Genossin Kuckuck“ so weit gekommen bin, dass ich mir selbstbewusst die Zeit und den Raum genommen habe, meine Erzählung auszubreiten.

Gab es Zeichner*innen, die Sie beeinflusst haben?

Auf jeden Fall. Meine Eltern haben mir tolle Kinderbücher gekauft. Wir hatten eine große Bibliothek mit vielen Kunstbüchern zu Hause, das war großartig. Ich habe die Zeichnungen von Käthe Kollwitz sehr geliebt, späterhin dann Rodolphe Toepffer. Als ich ungefähr 17 Jahre alt war, habe ich Kerstin Grimm kennengelernt. Das ist eine Berliner Künstlerin, ein bisschen älter als ich, aber sie ist mein großes Vorbild. Sie ist mir immer sehr wahrhaftig und unbestechlich in ihrer Kunst und ihren Ansichten erschienen. Bis heute. Wir haben damals viel zusammen gezeichnet, und das Zusammenarbeiten war für mich eine bessere Schule als das Studium später.

Mit „Genossin Kuckuck“ erschien wahrscheinlich Ihr Opus magnum. Dann haben noch ehemalige Schü­le­r*in­nen das Buch „Tandem“ mit Erinnerungen an Ihre Lehre veröffentlicht. Das klingt alles nach Rente …

Oh Gott, Sie haben recht! Schon als ich 2021 den Max-und-Moritz-Preis für mein Lebenswerk bekommen habe, habe ich mich gefragt, ob das irgendwie ein Schlusspunkt sein soll. Aber ich glaube im Gegenteil, dass die künstlerische Arbeit die beste Art ist, alt zu werden. Damit hört man nicht auf.

Das erste Mal gelesen habe ich Ihren Namen, als ich zum Unabhängigen Frauenverband recherchiert habe, einer feministischen Dachorganisation der späten DDR. Für den haben Sie 1990 die Wahlplakate gemacht, auf denen stand: Frauen sind mutig, stark und schön! Das fand ich stark.

Aber das musste ich denen geradezu aufdrängen damals! Ich saß allein zu Hause mit meinem Baby, und um mich herum war ein großer Aufruhr. Mit dem Baby konnte ich nicht überallhin. Aber ich wollte arbeiten, teilhaben. Dann hatte ich diese Plakatidee, habe mein Kind aufgeschnallt und bin zu den Frauen ins Haus der Demokratie gegangen. Die fanden meine Zeichnung zu märchenhaft, zu illustrativ. Also habe ich meine Sachen wieder zusammengeräumt und bin gegangen. Dann kam eine hinterhergerannt und hat gesagt: Lass uns in einen anderen Raum gehen und darüber reden. Und dann wurde das Plakat in mehreren Auflagen gedruckt und plakatiert!

Wie sind Sie in die Frauenbewegungskreise reingekommen?

Mit der Geburt meines Sohnes Anfang 1989 beschäftigte mich vor allem ein Thema: die Zukunft der Kinder. Ich fragte mich, wie mein Kind aufwachsen soll und ob ich es wirklich in dieses kollektive Erziehungssystem der DDR geben soll, wie es mir selbst passiert ist. Das hat mich um- und angetrieben, und so habe ich mich auf verschiedene illegale Veranstaltungen begeben und schließlich mit anderen zusammen einen Kinderladen in Berlin gegründet, den es heute noch gibt. Darauf bin ich sehr stolz. Auf jeden Fall hatte ich dadurch mit vielen Frauen zu tun und bin in verschiedene Frauen­organisationen reingekommen, habe für Theatergruppen gearbeitet.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Mit dem Baby auf dem Arm standen Sie dann auf den Demos im Herbst 1989. Welche Gefühle verbinden Sie mit dieser Zeit?

Ich war auf jeden Fall euphorisch. Ich hatte gerade mein Grafikstudium abgeschlossen, ein Kind bekommen und keine Ahnung, was ich in der DDR ­machen sollte. Ich wusste, dass ich mit meinen Themen und meiner Denkweise nicht veröffentlichen können würde. Plakate, die ich machen wollte, hätte ich wahrscheinlich erst mal nicht machen dürfen. Und plötzlich sind durch mein politisches Engagement Plakate von mir in die Öffentlichkeit gekommen.

Reine Euphorie also?

Ich habe diese Zeit der sogenannten Wende auch als beängstigend erlebt. In der DDR hatten wir ein Sicherheitsnetz: Es gab etwa offiziell keine Arbeitslosigkeit. Wir haben im Studium ein Stipendium bekommen, von dem eine leben konnte. Das war dann weg. Plötzlich stand ich mit meinem Kind, ohne Arbeit, ohne Versicherung da, die Mieten sprangen von null auf hundert, die Währung galt nichts mehr. Insofern war ich verunsichert und euphorisch zugleich.

Wie blicken Sie 35 Jahre nach der Revolution auf Ostdeutschland? Mit den Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg vor Augen – machen Sie sich Sorgen?

Sorgen mache ich mir seit dem Fall der Mauer. Dieses „Deutschsein“ und „ein Land sein“, das hat mir Angst gemacht. Damals noch mehr als heute. Die vielen Demonstrationen in letzter Zeit strahlen viel positive Energie aus. Andererseits sehe ich natürlich, was hier auf dem Land passiert, wie der Nationalsozialismus gesellschaftsfähig geworden ist, anders als noch vor ein paar Jahren. Natürlich mache ich mir Sorgen, aber ich bin froh, dass ich hier in einem Dorf lebe, wo die Plakate der NPD nicht über Nacht hängen bleiben.

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